In den letzten Wochen...
...hat sich dieser nahende Abschied noch nicht wirklich wahr angefühlt. Wir waren noch alle zusammen auf den Galapagos-Inseln, die Kinder hatten Ferien, es kamen neue italienische Freiwillige und die Zeit war entspannt. Ich habe zwar schon an den Abschied gedacht, aber nicht so viel. Es hat sich einfach noch gar nicht real oder nah angefühlt. Wir haben hier jetzt so einen Alltag, unseren Lieblingscafés und Restaurants, in die wir fast wöchentlich gehen. Jede von uns unternimmt auch mal etwas alleine, geht alleine zu Terminen, zu Aktivitäten oder ins Café. Das klingt jetzt vielleicht absurd, aber am Anfang war ich wirklich kaum allein unterwegs. Jetzt hat sich alles irgendwie geerdet. Aber auch, dass ich auch sie ins Herz geschlossen habe und mich an den Umgang mit ihnen gewöhnt habe. Ich habe auch gemerkt, dass sich die Kinder an uns gewöhnt haben. Die anfängliche Überforderung ist verflogen und alles fühlt sich alltäglich und normal an. Auch beim Spanischsprechen fühle ich mich sehr sicher. Ich kann mich ohne Probleme verständigen. Wenn ich daran denke, wie ich in den ersten Wochen und Monaten kaum ein Wort herausgebracht habe, bin ich stolz und froh, dass ich mich sprachlich weiterentwickelt habe.
Vielleicht fühlt sich der Abschied auch deshalb so surreal an, weil es vor allem die letzte Woche hier noch so viel zu tun gibt. Die ganze Zeit müssen wir noch mal los: Es stehen Verabschiedungen aus den Casas und der Fundación an, man muss noch die letzten Karten und Abschiedsgeschenke besorgen und möchte noch ein letztes Mal an diesen einen Ort oder in dieses eine Lieblingscafé. Hinzu kommt das Haus, in dem es jetzt nicht mehr so häuslich und gemütlich aussieht, sondern eher wie ein großes Packchaos mit Koffern, Boxen, Mülltüten und Krimskrams, der irgendwo hin muss. Es bleibt so wenig Zeit, um das alles wirklich zu begreifen, zu begreifen, dass diese Etappe meines Lebens jetzt einfach so endet. Es ist extrem stressig, es wurden so viele Tränen vergossen in der letzten Woche, und es gibt so viele Gefühle, die sich kaum beschreiben lassen. Letztendlich sind die letzten Wochen hier einfach verflogen, jeder Tag ist irgendwie vorbeigezogen und auf einmal habe ich nur noch zwei Tage in Ecuador.
Am meisten tut mir der Abschied von den Kindern weh. Es ist schrecklich zu wissen, dass ich die Kinder, mit denen ich fast zwölf Monate lang fünf Tage die Woche verbracht habe, jetzt nicht wiedersehen werde. Bei unserer Verabschiedung in der Casa gestern hat eine Educadora, die normalerweise eher distanziert ist, angefangen zu weinen. In ihrer Rede hat sie gesagt, wie sehr man merkt, dass sich die Kinder während unserer Zeit hier positiv weiterentwickelt haben. Sie sagte, dass die Entwicklung der Kinder nicht nur von ihnen als Educadoras, sondern auch von uns als Freiwilligen abhänge. Vor allem bei zwei unserer jüngeren Kinder habe man gemerkt, wie sie sich durch die Zeit mit Marlene und mir weiterentwickelt haben, und wir seien genauso ein Teil ihres Lebens und dieser Entwicklung. Sie sagte, dass das eine Kind viel sozialer und fröhlicher geworden sei. Ich erinnere mich noch gut an die Einschulung des Kindes am Anfang des Jahres, als es die ganze Zeit nur geweint hat. Es hatte große Angst, vor allem vor Neuem und Fremdem, konnte mit niemandem reden und war sehr zurückgezogen. Jetzt ist sie ein soziales und offenes Kind, das in der Schule und im Haus Anschluss gefunden hat. Das andere Kind hätte durch uns angefangen mehr zu reden, neue Wörter zu lernen und sich besser zu verständigen. Diese Worte haben mich wirklich sehr berührt. Ich habe diese Veränderungen bei den Kindern auch stark bemerkt, aber es noch einmal von ihr zu hören und die Bestätigung zu haben, dass es anderen Menschen genauso auffällt, war wirklich sehr schön.
Es sind auch weitere kleine Dinge: Ein anderes Kind wusste beispielsweise eine Zeit lang nicht, wie es mit seinen Wutgefühlen in Streitsituationen umgehen sollte und wurde aggressiv gegenüber anderen Kindern. Marlene oder ich haben es in solchen Situationen oft einfach in den Garten mitgenommen, mit ihm durchgeatmet und geredet. Mit der Zeit kam es viel weniger zu solchen Auseinandersetzungen und das Kind hat gelernt, seine Wut besser zu kontrollieren. Andere Kinder habe ich beispielsweise immer sehr gelobt, wenn sie ein Puzzle oder etwas geschafft hatten. Mit der Zeit hat eines der Kinder angefangen, die anderen zu loben und „muy bien!!“ zu sagen, wenn jemand etwas geschafft hat, weil es gesehen hat, dass ich es immer tue. Es war nie mein Ziel oder meine Erwartung, hier vor Ort etwas zu ändern oder umzukrempeln, und das habe ich auch lange nicht getan. Aber es ist trotzdem schön zu sehen, dass kleine Umgangsweisen hängenbleiben.
Bewundernswert ist auch, wie die Kinder sich untereinander wie Geschwister behandeln. Sie helfen einander, die Großen achten auf die Kleinen – nicht, weil sie es müssen, sondern weil sie es wollen, weil sie sich gegenseitig liebhaben. In den Häusern merkt man kaum, wer leiblich verwandt ist und wer einfach „zusammenlebt“. Den Unterschied zwischen „echten Geschwistern“ und dem Rest sieht man kaum, denn sie behandeln sich alle auf die gleiche Art und Weise: Sie streiten und lieben sich wie Geschwister. Letztendlich ist die Casa ein Kinderheim, in dem Kinder mit unglaublich schrecklichen Geschichten leben, und dieses Leben ist nicht einfach. Dennoch denke ich, dass die Fundación und die Educadoras für das Wohl dieser Kinder kämpfen und dieses immer im Fokus steht. Diese Kinder sind geliebt und geborgen, die Menschen kümmern sich um sie, und das geht über eine herkömmliche Arbeitsstelle hinaus. Ich habe von Herzen den größten Respekt für alle, die in der Fundación mitwirken, und es fühlt sich deswegen auch gut an zu gehen, weil ich weiß, dass die Kinder an einem sicheren Ort sind. Ich bin so dankbar, dass ich ein Teil dieser Gemeinschaft sein durfte, ein Teil der Fundación und des Lebens der Kinder. Auch die Educadoras habe ich sehr ins Herz geschlossen. Wir haben eine Bindung zueinander aufgebaut, weshalb mir der Abschied von ihnen auch schwerfällt.
Die Verabschiedungen aus dem Haus waren dazu nochmal ein sehr schöner und wichtiger Abschluss des Jahres. Die Kinder und Educadoras haben so viel vorbereitet, sie haben das ganze Haus geschmückt, alle haben Reden gehalten, es gab viel Essen, es wurde getanzt und gesungen, sehr viel geweint und gelacht. Es war so viel mehr, als ich jemals erwartet hätte und letztendlich bin ich auch für diesen Abschied so dankbar. Dazu denke ich, dass es für uns Freiwillige als auch für die Kinder sehr wichtig und gesund ist, einen solchen festen Abschied zu haben. Einen Nachmittag, an dem alle weinen und sich an die Zeit erinnern, damit alle wirklich verstehen, dass die Zeit hiermit vorbei ist und, dass die Kinder nicht denken, wir wären einfach gegangen.
Auch der Abschied von meinen Mitbewohnerinnen fällt mir sehr schwer, denn sie sind im Laufe des Jahres zu echten Freundinnen geworden. Ich habe mit ihnen mehr erlebt als mit manchen Freundinnen, die ich seit mehr als fünf Jahren kenne. Wir haben einander in den unterschiedlichsten Situationen erlebt, waren füreinander da und haben immer aufeinander aufgepasst. Es ist komisch zu wissen, dass für zwei von uns die Reise hier noch weitergeht und sie in Ecuador bleiben werden, während wir zurückgehen. Manchmal zweifele ich an meiner Entscheidung, das Jahr hier zu beenden und nicht noch ein halbes Jahr zu bleiben. Aber letztendlich denke ich, dass sich alles so fügen wird, wie es soll.
Ich denke auch, dass es völlig normal ist, sich in den letzten zwei Monaten vor dem Abflug überdurchschnittlich gut zu fühlen. Bei meinem Auslandsjahr in den USA hatte ich die gleiche Erfahrung. Nach zehn Monaten fühlt man sich in der Regel erst vollkommen angekommen und romantisiert somit die letzte Zeit. Ich bin mir sicher, dass ich auch in Deutschland meinen Weg finden werde. Dazu bin ich mir sicher, dass ich in kurzer Zeit zurück im schönen Ecuador sein werde. Ich werde mit diesem Jahr immer nur die schönsten und positivsten Erfahrungen verbinden. Es wird eine Zeit bleiben, an die ich mich immer erinnern werde, und es wird immer ein Jahr meines Lebens sein, in dem ich mich extrem weiterentwickelt habe. Ich bin unglaublich dankbar für diese Möglichkeit, die durchgehende Unterstützung und Vorbereitung durch die Econ, genauso wie für die herzliche Aufnahme durch die Fundación Cristo de la Calle. Danke für alles!