Irgendwo zwischen Neuheit und Alltag
Drei Monate… Es ist wirklich verrückt, wie schnell die Zeit vergeht. Es kommt mir so vor, als wäre ich gestern noch panisch in meinem Zuhause in Deutschland hin und her gelaufen, in dem Versuch, das Gewicht meines Koffers auf 23 kg zu beschränken. Damals kam mir das viel zu wenig vor; heute kann ich sagen, dass ich an manchen Stellen sehr unnötige Sachen eingepackt habe und dafür an anderen Stellen meine Prioritäten falsch gesetzt habe. Aber ich denke, im Nachhinein ist man immer schlauer.
Es fühlt sich an, als hätte ich mich gerade erst von den Menschen am Flughafen verabschiedet, die mir so wichtig sind. Ich glaube, der Moment des Abschieds war eines der Dinge, vor denen ich im Vorhinein am meisten Angst hatte.
Und es kommt mir so vor, als wären wir gestern noch durch den gefühlt ganzen Flughafen in Atlanta gerannt, um unseren Anschlussflug zu bekommen. Obwohl wir den Flug nicht mehr bekommen haben, würde ich sagen, dass dieses Erlebnis mich und meine Mitfreiwilligen näher zusammengeschweißt hat. Im Endeffekt war alles halb so schlimm, wie wir gedacht hätten. Nachdem wir vollkommen gestresst – und sogar ohne Zeit, unsere Schuhe wieder richtig anzuziehen – vergeblich zu unserem Gate gelaufen sind, haben wir schließlich ein Hotelzimmer in der Nähe des Flughafens bekommen. Am nächsten Tag sind wir mit einem weiteren Zwischenstopp in Houston dann doch in Quito angekommen. Ich kann es ehrlich gesagt gar nicht fassen, dass das alles schon drei Monate her ist.
Nun sitze ich hier, drei Monate später, und schaue aus dem Fenster. Der Anblick der Berge, die um Ibarra herum liegen, ist immer wieder beeindruckend. Es sind gerade 25° C draußen und die Sonne scheint, obwohl eigentlich schon fast Weihnachten ist. Irgendwie ist es ein komisches Gefühl, Weihnachten ohne den gewohnten Schneeregen in Deutschland und meine vertraute Umgebung zu verbringen. Gerade jetzt, in der anstehenden Weihnachtszeit, vermisse ich Deutschland schon. Oder besser gesagt: Ich vermisse die Menschen, mit denen ich sonst die Weihnachtszeit verbringe. Aber auch wenn dieses Weihnachten anders als gewohnt sein wird, freue ich mich darauf. Ich freue mich darauf, die Weihnachtszeit mit den Kindern in dem Haus, in dem ich arbeite, mitzuerleben. Wir werden in den nächsten Tagen das ganze Haus gemeinsam weihnachtlich dekorieren. Ich habe meine Arbeit in dem Casa de Familia mit den Kindern, den Erzieherinnen und meinen Mitfreiwilligen sehr zu schätzen gelernt. Am Anfang hatte ich großen Respekt vor den 40 Stunden, die ich jede Woche arbeite. In der ersten Zeit war ich nach der Arbeit oft ziemlich erschöpft und wusste auch oft nicht genau, was ich machen sollte. Ich hatte zudem das Gefühl, dass die Kinder und ich nicht wirklich warm miteinander wurden. Rückblickend ergibt das natürlich Sinn, denn sowohl ich als auch die Kinder brauchten erst einmal Zeit, uns aneinander zu gewöhnen und uns kennenzulernen. Mittlerweile gehen die acht Stunden pro Tag jedoch viel schneller vorbei, als ich gedacht hätte. Das liegt vor allem daran, dass ich die täglichen Abläufe jetzt kenne und es mit zwölf Kindern im Haus eigentlich immer etwas zu tun gibt. Die Kinder sind mir in der kurzen Zeit schon sehr ans Herz gewachsen und ich habe bereits viele schöne Erinnerungen mit ihnen sammeln dürfen. Manchmal ist die Arbeit aber auch ziemlich herausfordernd und belastend. Das liegt unter anderem daran, dass die Vorgeschichten der Kinder oft sehr traurig sind. Aus diesem Grund haben manche Kinder Verhaltensweisen entwickelt, die für mich herausfordernd sind und an die ich mich erst gewöhnen musste. Ein Beispiel dafür ist, dass viele Kinder bei Konflikten Gewalt als einzigen Ausweg sehen. Ich finde es schwierig, darauf angemessen zu reagieren. Trotzdem finde ich die Arbeit mit den Kindern unglaublich bereichernd und habe großen Respekt davor, wie die Erzieherinnen in meinem Haus schwierige Situationen lösen. Generell finde ich bemerkenswert, was die Erzieherinnen jeden Tag leisten, und umso trauriger ist es, dass sie seit circa sechs Monaten nicht mehr vom Ministerium bezahlt werden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es sein muss, wenn man sich nicht auf das Gehalt verlassen kann, auf das man angewiesen ist.
Neben der Arbeit habe ich auch meine Mitbewohnerinnen in den drei Monaten sehr ins Herz geschlossen. Ich bin froh, dass wir zusammenwohnen. Natürlich gibt es manchmal Meinungsverschiedenheiten und jeder hat unterschiedliche Vorstellungen vom und Erwartungen ans Zusammenleben, aber trotzdem freue ich mich, abends nach Hause zu kommen und zu wissen, dass wir gleich alle zusammen kochen und erzählen werden. Es ist schön zu wissen, dass mich andere Personen in meiner Situation verstehen, weil sie sich in genau der gleichen Lage befinden.
Zusammen sind wir schon viel durch Ecuador gereist. Ich bin fasziniert von der Vielfalt und der Natur dieses Landes. Bevor ich nach Ecuador gekommen bin, hätte ich nie erwartet, wie schön die Landschaften hier eigentlich sind. Deswegen freue ich mich umso mehr, weiter durch Ecuador zu reisen und neue Orte sowie neue Menschen kennenzulernen.
Ein Thema, das mich in letzter Zeit sehr beschäftigt hat und über das wir auch öfter in der WG gesprochen haben, ist die Voreingenommenheit einiger Menschen gegenüber Südamerika. Vor meiner Ausreise hatte ich ehrlich gesagt einige Zweifel und ziemlich viel Angst, ein Jahr in Ecuador zu verbringen. Ich glaube, das lag vor allem an den Reaktionen einiger Menschen, denen ich von meinem Freiwilligendienst erzählt habe.
Mit Sätzen wie „Du willst wirklich nach Ecuador? Pass bloß auf, dass dir dort nichts passiert!“ oder „Pass auf, dass du nicht in irgendwelche Geschäfte verwickelt wirst!“ wurde ich immer nervöser. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, macht es mich traurig, wie viele Vorurteile es über die Länder Südamerikas gibt und dass manche Menschen Ecuador sofort mit Kriminalität und Drogen assoziieren. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich könnte mir aber vorstellen, dass diese vorbehaltende negative Einstellung zum Teil von den Nachrichten kommt, die – wenn sie überhaupt was über Südamerika berichten – öfters Gewalt und Drogenkriminalität thematisieren. Es stimmt auch, die Drogenkriminalität und Gangs sind ein Problem in Ländern Südamerikas, aber man sollte die Länder keinesfalls darauf reduzieren.
Davon abgesehen finde ich es faszinierend, wie vieles, was ich bei meiner Ankunft neu und manchmal befremdlich fand, inzwischen zu meinem Alltag gehört. Es ist wirklich erstaunlich zu sehen, wie schnell wir uns an die neuen Situationen gewöhnt haben. Wie schnell ich mir zum Beispiel angewöhnt habe, immer zu den gleichen drei Ständen am Markt zu gehen oder wie schnell ich mich auch an die Situation mit den Stromausfällen gewöhnt habe. Ganz Ecuador hat momentan zu unterschiedlichen Zeiten jeden Tag mindestens acht Stunden Stromausfall. Am Anfang war das ein größeres Problem für mich und ich fand es sehr befremdlich, abends im Dunkeln zu sitzen. Jetzt freue ich mich jeden Abend auf unser Abendessen und Erzählen im Kerzenlicht.
Insgesamt bin ich für die Eindrücke und Erfahrungen, die ich in den letzten drei Monaten sammeln durfte, sehr dankbar. Ich bin gespannt auf das, was noch vor mir liegt, und vor allem froh, dass ich die Chance, einen Freiwilligendienst in Ecuador zu machen, genutzt habe und mich nicht von anderen davon habe abbringen lassen.