Und so schnell geht es auf einmal...
Es ist Halbzeit, seit über 5 Monaten befinde ich mich jetzt am anderen Ende der Welt, in Ecuador. Ich habe hier mittlerweile meinen eigenen, neuen Alltag. Morgens gehe ich 7 Stunden arbeiten, kümmere mich um 12 Kinder im „Casa familia de Bellavista“, versorge mich selbst, mache wenn möglich täglich Sport, koche frisch und gehe zweimal die Woche zum Salsa tanzen ins „Gong“. Und auch wenn sich das anhört, als wäre ich vollständig angekommen, glaube ich, dass dieser Prozess kein Ende finden kann, auch wenn ich mich innerlich angekommen fühle. Mit jedem Tag wird Ecuador mehr zu meinem Leben.
Wo am Anfang noch gedacht wurde, dass 11 bzw. 12 Monate eine sehr lange Zeit sind, fällt es jetzt schwer zu glauben, dass schon die Hälfte des Freiwilligendienstes vorbei sein soll. Es steht noch so viel auf dem Plan und gleichzeitig hat man schon so unendlich viele Erfahrungen sammeln dürfen und Erkenntnisse gefunden. Auf der einen Seite fühlt es sich bereits so an, als hätten wir unser Leben hier, denn alles ist so vertraut und gewohnt und der letzte Zeitpunkt auf deutschem Boden fühlt sich an, als wäre er Ewigkeiten her. Auf der anderen Seite kann ich nicht glauben, dass ich bereits so viele Monate in einem anderen Land verbringe, fernab von allem, was noch vor ein paar Monaten mein ganzes Leben ausgemacht hat.
Trotzdem sind wir noch nicht zu 100 Prozent hier angekommen, denn selbst, wenn ich es mir immer wieder denke, stelle ich einige Wochen später wieder fest, dass ich es noch mehr und wieder noch mehr bin. Langsam finden wir ecuadorianische Freunde und verbringen nicht nur Zeit mit anderen deutschen Freiwilligen, langsam können wir uns sicher auf Spanisch verständigen, langsam fangen die Kinder an zu fragen, was in 6 Monaten passiert und langsam rückt der Zeitpunkt näher, wo die meisten Besuch aus Deutschland bekommen. Außerdem sind wir alle jetzt schon wieder in der Planung unseres nächsten Lebensabschnitts. Es wird sich auf Stellenangebote beworben, in Unis eingeschrieben, nach Stipendien gesucht, Ausbildungsplätze angefragt und jede Entscheidung immer wieder überdacht.
Im letzten Bericht hatte ich von dem Zusammenhalt in der WG gesprochen, dass sich langsam eine kleine Familie bildet, und diese Situation verstärkt sich immer mehr. Mittlerweile werden sich Klamotten ausgeliehen, gemeinsam gebacken, Urlaube geplant und stundenlang in der Küche gesessen, um einfach nur zu reden und nicht zu merken, wie die Zeit vergeht. Ich habe hier neue Freunde gefunden, die mich in manchen Momenten besser zu kennen scheinen als ich mich selbst. Ich weiß, selbst wenn man in der Zukunft nicht dauerhaft Kontakt haben wird, diese Erfahrungen und Erinnerungen werden uns für immer mehr als nur verbinden.
Zudem wird die Beziehung zu den Kindern in den Casas immer enger. Sie schlafen auf unserem Schoß ein; lehnen sich an uns an, wenn sie weinen; wenden sich mit Problemen und Ängsten an uns; laufen auf uns zu, wenn wir zur Arbeit kommen; klettern auf uns herum; umarmen und küssen uns und sind traurig, wenn wir von der Arbeit nach Hause gehen oder am Wochenende nicht arbeiten. In dem Casa wird insbesondere an den Wochenenden eine sehr familiäre Atmosphäre geschaffen, von der wir ein Teil sein dürfen und uns teilweise, wie große Geschwister der Casakinder fühlen, was wir sehr wertzuschätzen wissen.
Aber nicht nur mein äußeres Leben hat sich in den letzten Monaten wieder deutlich weiterentwickelt, sondern auch ich mich selbst. Zu Anfang war ich hier noch sehr eingeschränkt in meinem Selbst, habe mich häufiger mal alleine gefühlt oder nicht für mich selbst einstehen können. Doch in den letzten Monaten bin ich immer weiter aufgeblüht, stehe zu dem, wer ich bin, sage meine Meinung und fühle mich mit Personen umgeben, die mir gut tun und bei denen ich einfach ich selbst sein kann. Ich lerne Facetten an mir kennen, die ich zuvor nicht entdeckt hatte und bemerke, dass ich stärker bin als ich oftmals denke.
Und trotz dessen, dass wir uns immer mehr eingewöhnen und die Zeit hier mehr als nur genießen, gibt es selbstverständlich auch Momente, die eher negativ sind und mit denen wir nach wie vor zu kämpfen haben. Hinzu kommen immer noch gesundheitliche Belastungen, indem wir leider immer noch häufig krank sind und psychische Belastungen durch die Schicksale der Kinder und deren Traumata, sowie eigene persönliche Gedanken, die einen herumtreiben. Auch das Catcalling ist weiterhin konstant, ich dachte irgendwann wird es mir egal sein und mir nicht mehr so nahe gehen, aber da dies immer ein präsentes Thema ist, sobald man das Haus verlässt, scheint vergessen nicht möglich zu sein. Und zu all dem wurde mit dem neuen Jahr wie ein Paukenschlag der bewaffnete Ausnahmezustand ausgerufen. Neben einer nächtlichen Ausgangssperre, einem Reiseverbot und der Angst, durften wir zwei Tage nicht arbeiten und hingen im Ungewissen wie und wann es mit unserem Freiwilligenleben hier weitergeht. In diesem Zeitraum wurde ich von vielen Personen aus Deutschland gefragt „Aber wenn du die Möglichkeit hättest, würdest du nicht gerne das Land verlassen und in die sichere Heimat zurück kommen?“, aber ohne groß nachzudenken, war meine Reaktion immer „Nein!“. Der Freiwilligendienst ist für mich mehr als nur eine Arbeit, die ich ein Jahr lang tätige, mehr als eine neue Erfahrung oder eine Reise. Für mich ist es mein momentanes Leben, welches ich trotz der Höhen und Tiefen in vollen Zügen jeden Tag genieße. Denn auch wenn noch die Hälfte unseres Freiwilligendienstes vor uns liegt, möchte ich weder an den Abschied noch an die Rückkehr nach Deutschland denken. Aber angesichts dessen, dass sich die bisherige Zeit hier momentan so kurz anfühlt, stellen sich mir langsam einige Fragen. Denn wie soll ich etwas zurücklassen, dass ich jeden Tag mehr zu meinem zweiten Zuhause mache, wie soll ich von einem Tag auf den anderen meinen ganzen Lebensstil wieder ändern und vor allem wie soll ich mich von den Kindern verabschieden, mit denen ich mindestens 5 Tage die Woche verbringe? Kinder, denen ich die Tränen von den Wangen gewischt, die Windel gewechselt, die Nase geputzt, die Schuhe zugebunden oder schlafend ins Bett getragen habe? Kinder, die mich jeden Tag zum Lachen bringen, die mir auch ab und zu etwas Wasser in die Augen tragen, mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern und mir immer mehr zeigen, wer ich wirklich bin und was mir im Leben persönlich am wichtigsten ist.