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Sarah Weischer - 3. Bericht

Über Identität, Horizonterweiterung und Selbstliebe

Von allen Zwischenberichten bisher ist es mir bei diesem am schwersten gefallen, das Thema, worum meine Gedanken zurzeit größtenteils kreisen, auszumachen, und darüber zu schreiben. Schlussendlich habe ich dann eingesehen, dass ich das dieses Mal vielleicht tatsächlich gar nicht kann. Statt also zuerst das Thema festzulegen, habe ich einfach meine Gedanken und das, was mich aktuell so beschäftigt, stichpunktartig zu Papier gebracht, um es danach auszuformulieren, sodass jetzt so eine Art „Gefühlsupdate“, wenn man das so nennen kann, daraus geworden ist.

Wer bin ich und wer will ich sein?
Bewusst stellt man sich diese Frage wahrscheinlich das allererste Mal zu Beginn der Pubertät. Von da an wird sie einen aber ständig, bis hin zum Lebensende, begleiten, den einen vielleicht mehr, den anderen weniger, aber, wie ich hier zum ersten Mal richtig verstanden habe: Identitätsfindung hört nie auf und ist auch nie abgeschlossen. Identität ist nichts, was man nach langem Suchprozess findet (ab wann hat man denn auch überhaupt seine Identität „gefunden“??), und dann einfach bei sich behält. Ich mag also das Wort „Identitätsentwicklung“ viel lieber, denn Entwicklung ist stets verändernd, mal mehr mal weniger, aber ein ständiger Prozess, der nie aufhört.
Ein weiterer Grund, warum ich „Entwicklung“ bevorzuge ist, dass diese nicht stetig bzw. konstant sein muss. Mal geht es super schnell voran, mal hat man das Gefühl, man hängt irgendwo fest.
So muss ich sagen, dass die Zeit hier in Ecuador meine Identitätsentwicklung im Vergleich zu ihrem Verlauf bisher ziemlich beschleunigt, bzw. ihr durch Veränderungen in so vielen Bereichen ganz neue Richtungen gibt und dieses Jahr meine Identität wahrscheinlich für längere Zeit prägen wird wie wohl kein anderes.

„Du hast dich verändert“, sagen mir meine Freunde, wenn ich mit ihnen ab und zu in Kontakt bin oder mit ihnen skype, oder sie mich auf meinen social media Kanälen sehen. Und ja, ich habe mich verändert. Aber das ist klar, denn mein Umfeld hat sich verändert – und nicht nur ein bisschen, sondern 100%ig. Ich erlebe mich hier in ganz neuen Situationen, denn diese Umfeldveränderung bringt es natürlich mit sich, dass ich alle meine Rollen, die ich in Deutschland hatte: Schülerin, später dann Abiturientin, Tochter, Enkelin, Cousine, Freundin, Sängerin etc. hinter mir lassen und mich in meine neuen Rollen hier einfinden musste und es ja auch eigentlich immer noch tue.
Hier bin ich auf der Arbeit bspw. Erzieherin. Wer das auch schon mal weiß, wie verdammt schwer diese Rolle ist. Eigentlich ist es eine ständige Gradwanderung, sich entweder durch Strenge und Konsequenz oder durch emotionale Wärme und Liebe den Respekt der Kinder zu verschaffen, um dann schlussendlich im Team zu arbeiten. Wie streng will ich sein? In welcher Beziehung will ich zu den Kindern stehen und was für eine Bedeutung will ich für die Kinder haben? sind Fragen, die man sich zu Beginn sicherlich mehr, aber auch heute noch stellt.
Daneben bin ich für die Educadoras logischerweise auch Arbeitskollegin. Die Kollegin, die besonders gut kochen kann? Die, die das Haus immer ganz besonders gut putzt? Oder die, die immer gerne einen Kaffee oder Brötchen für alle spendiert?
Dann bin ich natürlich auch WG Mitbewohnerin, und gleichzeitig Freundin, ich bin Freiwillige, Ausländerin/Europäerin, Touristin (auch wenn ich mich mittlerweile gar nicht mehr wie eine „normale“ Touristin in Ecuador fühle) und auch einfach eine „normale“ Erwachsene, bzw. Hausfrau, die einkaufen geht, die Internetrechnung bezahlt und kocht oder putzt.

Eigentlich ist meine Identität hier viel facettenreicher, meine Identitätsentwicklung aber auch viel anstrengender. Denn abgesehen davon, dass ich hier mehr Rollen als in Deutschland habe, hat die Komplexität dieser zu- und der äußere Einfluss, unter dem diese stehen, der Grenzen und Richtlinien mit sich bringt, abgenommen. Damit meine ich, dass es in Deutschland ziemlich einfach war, bspw. die Rolle der Schülerin zu erfüllen, denn so viele verschiedene Möglichkeiten gab es nicht, und durch strukturelle Grenzen und Richtlinien war die komplexere individuelle Auslebung eingeschränkt. Dazu kam, dass man ja besonders in der Schulzeit der Meinung und Bewertung der Mitschüler ziemlich ausgesetzt ist, da man mit ihnen, ob man das gut findet oder nicht, einen sehr großen Teil seines Lebens verbringt. Was andere tun, wie sie ihr Leben gestalten, wie sich anziehen usw. hat noch einen überraschend hohen Stellwert.
Demgegenüber ist mir hier bewusst geworden, wie klein und unwichtig ein einzelner Mensch aber eigentlich für den Rest der Welt ist. Und das meine ich jetzt gar nicht negativ, sondern eher in dem Sinne, dass mittlerweile eigentlich jeder so mit sich selbst beschäftigt ist, dass es einem viel egaler ist, wer jetzt mit wem zusammen ist und wer sich die Haare in welcher Farbe gefärbt hat.
Generell wird einem hier (Wobei das hat wahrscheinlich mehr mit der Tatsache, dass wir hier allein in einer WG leben, zu tun hat) viel mehr Selbstverantwortung zuteil: Niemand schreibt einem vor, wie man seinen Tag einzuteilen oder den Haushalt erledigen zu hat, wann man am besten, was isst oder wie man sein Geld ausgibt. Man kann das tun, was man möchte und lernt vor allem es auszuhalten, wenn das andere anders sehen, denn im Endeffekt muss man selbst entscheiden, in was man inwieweit Zeit investiert. Mir tut das ziemlich gut, ich habe auch kein großes Problem damit, mich selbst zu beschäftigen, auf der anderen Seite bringt diese Individualisierung aber auch Schattenseiten mit sich.
So würde es zumindest Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann (ja, mein Abi ist ja noch kein Jahr her) ausdrücken. Individualisierung, das Wegfallen von vorgefertigten Lebensmustern – Freiheit - birgt auch immer die Gefahr, sich darin zu verlieren. Denn natürlich ist es viel einfacher, vorgegebenen Richtlinien zu folgen, statt seinen eigenen Weg auszumachen. Hurrelmann hat sich zwar eher auf strukturelle und weniger persönliche Individualisierung, wie ich sie jetzt beispielsweise durch das Auslandsjahr erlebe bezogen, dennoch steht ja dieses sogar auch im Rahmen der gesellschaftlichen Individualisierung, denn was er als problematisch betrachtet, ist der Individualisierungszwang: Jeder muss zwar individuell, aber gesellschaftlich immer noch angepasst sein. Das heißt, es soll jeder seinen eigenen Weg finden und sich bspw. seinen Beruf anders als damals selbst aussuchen, aber das dann bitte schnell, damit keine Zeit verloren wird, in der man ja schon studieren, arbeiten, kurzum „etwas sinnvolles“ machen könnte. Ein Auslandsjahr? Muss man doch heutzutage machen, wenn man die Möglichkeit hat. Wer einfach mit der Norm geht, wird als langweilig oder faul abgestempelt, fällt man aber zu sehr auf, ebenso abgelehnt.
Trotz dieser Problematik, die unser Umgang mit der Individualisierung aufwirft, überwiegen für mich Vorteile und Chancen, die sie bietet. Wir müssen meiner Meinung nach einfach lernen, weniger Druck auszuüben, sodass Menschen, die vielleicht doch mehr Richtlinien brauchen, oder einfach länger, herauszufinden, wie sie ihr Leben gestalten möchten, nicht an ihrer Freiheit zerbrechen, aus Hilflosigkeit vor so vielen Möglichkeiten und fehlender Selbstverantwortungsfähigkeit.

Dass ich über solche Themen nachdenke, mir meiner eigenen Freiheit bewusstwerde und die Erweiterung meiner sozialen Rollen wahrnehme, geht denke ich auch mit einer generellen Horizonterweiterung einher.
Hier ist mir zum ersten Mal wirklich klar geworden, dass es so so viel mehr auf der Welt gibt, außer Deutschland bzw. Europa. Natürlich weiß man von anderen Kulturen und Ländern, aber nach einiger Zeit hier war mir erst wirklich bewusst, dass diese nicht nur irgendwo weit entfernt existieren, sondern wirklich zur globalen Lebensrealität gehören, und dass es verdammt interessant ist, diese zu erleben und sich schlussendlich auch in dieser einzuleben. Mittlerweile bekomme ich regelrecht Angstzustände bei dem Gedanken, den Rest meines Lebens in Deutschland zu verbringen. Ich will mehr von diesem Gefühl, ganz andere Weltanschauungen und Lebensperspektiven kennenzulernen, zu reflektieren und schlussendlich entscheiden, mit welcher ich mich mehr, mit welcher weniger identifizieren kann.
Ich war immer ganz gerne unterwegs, habe aber erst hier meine große Liebe fürs Reisen entdeckt (An der Stelle möchte ich kurz einwerfen, dass die ökologischen Konsequenzen mein Gewissen nicht ganz unberührt lassen, und ich mich auf jeden Fall mehr mit nachhaltigem Tourismus beschäftigen möchte). Ich glaube tatsächlich, dass das für mich zurzeit die allersinnvollste Zeit- und Geldinvestition ist, denn wenig trägt für mich so sehr zur persönlichen Bildung bei wie dieses Erleben anderer Kulturen und den ganz verschiedenen Rhythmen und Schwingungen, die jedes Land hat. Unsere Welt hat so viel Unglaubliches zu bieten, was wir sehen und erleben können, und ich bin unheimlich dankbar, dass ich überhaupt die Möglichkeit habe, sie zu erkunden, denn das ist nicht selbstverständlich. Ich will diese Möglichkeit aber nutzen, um dann vielleicht auch sogar dazu beizutragen, dass diese nicht mehr nur ein Privileg bleibt.

Denn, auch wenn einem das System nicht gefällt, wenn man etwas daran ändern möchte, muss man zunächst erst mal ein Stück weit Teil davon werden. Und es vor allem erst einmal verstehen, und auch in dieser Hinsicht wurde mein Horizont hier erweitert. Ich würde niemals behaupten, dass ich jetzt die Welt und ihre sozialen und gesellschaftlichen, sowie ökologischen oder physikalischen in all ihrer Komplexität und komplizierten Zusammenhängen verstehe. Im Gegenteil, eigentlich ist mir klar geworden, wie wenig ich eigentlich überhaupt über sie weiß und wie komplex sie in Wirklichkeit ist. Das hat mir zu Beginn um ehrlich zu sein ziemlich Angst gemacht. Angst, dass ich meinen Platz darin nicht finde, aber auch Angst vor der Wahrheit, vor dem Bewusstwerden, dass schreckliche Dinge, über die wir in der Schule vielleicht mal kurz geredet haben, und die man mal in den Nachrichten hört, wirklich passieren – und zwar näher an uns, als wir es uns bewusst sind. Dass manche Probleme in Wirklichkeit sogar viel schwerwiegender sind als wir ahnen können und eigentlich sofort etwas getan werden müsste. Und Angst vor dem Ohnmachtsgefühl, das nicht ändern zu können, denn oft ist eine großflächige Verbesserung leider nun mal äußerst schwer zu bewirken. Das sollte zwar niemals ein Grund sein, gar nicht erst anzufangen und jedes Menschen- oder Tierleben, dass nur ein kleines bisschen schöner geworden ist, ist es für mich alle Mühe wert, aber trotzdem würde man Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Leid natürlich am liebsten 100 %ig eliminieren.

Ja, Wahrheit kann schmerzhaft sein. Obwohl wir doch eigentlich alle danach streben, ist Wahrheit oft mehr eine Last als ein Segen. Dennoch glaube ich macht dieser größere Horizont für mich das Leben bunter, tiefer und irgendwo lebenswerter. Denn auch wenn mich Dinge schockieren, wütend und traurig machen, und ich mir wünsche, ich wüsste nichts davon, würde ich ohne die „Wahrheit“ zu kennen, auch viel weniger Freude empfinden, Überwältigung, Hoffnung und Begeisterung, ich wäre nicht so beeindruckt und fasziniert von manchen Dingen, und ich könnte nie versuchen dazu beizutragen, diese Wahrheit in eine andere umzuwandeln. In dem Sinne finde ich also wir sollten die Privilegien und Möglichkeiten, die wir in Ländern des globalen Nordens nun mal größtenteils haben nicht mit einem schlechten Gewissen wegwerfen, sondern uns eben dafür einsetzen, dass diese nicht nur Privilegien bleiben.
Ich habe mich leider bisher nie wirklich für Politik interessiert und würde auch immer noch nie beruflich in die Richtung gehen. Dennoch ist das Interesse in mir geweckt, all diese Strukturen im Weltgeschehen, die vorher ja „eh alle viel zu kompliziert und anstrengend waren“ versuchen zu verstehen und vor allem der Wille, an Entscheidungen, soweit es möglich ist, teilzuhaben.

Um zum Thema „Identität zurück zu kehren: Neben der Erweiterung meiner sozialen Rollen, hat sich mein Horizont auch sonst ziemlich erweitert und ich mich auf ganz neue Weise wahrgenommen.
Ich habe viele neue Eigenschaften an mir entdeckt, bei denen ich gar nicht wusste, dass die so rauskommen können, wie bspw. Geduld oder Ruhe in Situationen, die mir nicht gefallen. Ich habe gelernt, Eigenschaften an mir zu schätzen, wie bspw. meine Kreativität, Hilfsbereitschaft und die Grundpositivität, mit der ich meist an Dinge herangehe.
Und – und ich glaube das war für mich am wichtigsten – ich bin an meine Grenzen gekommen. 100%igen Perfektionismus in dieser komplexen Welt, bei der ich gerade erst anfange, sie zu verstehen, ist einfach nicht möglich und das muss man akzeptieren. Es gibt viel zu viele konkurrierende Erwartungen, als dass man es allen recht machen kann und mit wachsender Aufgabenintensität und -quantität spielt auch der Faktor Zeit eine entscheidendere Rolle. Ja, es ist schmerzhaft, diese Unvollkommenheit auszuhalten. Klar, niemand stößt gerne an Grenzen und merkt, dass man weiter will, aber nicht kann.

Aber vielleicht fängt da, wo man an seine Grenzen stößt, erst wirkliche Selbstliebe bzw. Selbstakzeptanz an.
Man lernt, sich selbst in allen Zuständen und Phasen zu akzeptieren, auch wenn das vielleicht gerade noch nicht der „Soll“ Zustand ist. Man lernt nachsichtig mit sich zu sein, wenn man scheitert und sich wieder zu motivieren weiterzumachen. Man lernt Geduld mit sich zu haben und wiederholte Rückfälle nicht als Zeitverschwendung sondern als Lernmöglichkeit zu betrachten. Und man lernt, dass Liebe und vor allem Selbstliebe an keine Bedingung gebunden sein sollte. Dass man nicht erst irgendetwas erfüllen muss, um wertvoll zu sein. Dass Schönheit vor allem so etwas individuelles ist, sodass man Dinge, die man an anderen liebt, wertschätzen kann, ohne sich selber weniger wertvoll zu fühlen oder neidisch zu sein. Dass man sich, solange man keinem Lebewesen Leid zufügt, so ausleben kann wie man will und das okay ist. Dass man, auch wenn dadurch vielleicht Freunde und Familie enttäuscht werden, auch mal auf sich selbst achten und, wenn man es so nennen will „egoistisch“ sein darf. Denn im Endeffekt verbringt man mit sich selbst sein komplettes Leben. Warum also so viel unnötige Negativität darein investieren, sich über andere aufzuregen, statt es selbst eben anders zu machen und sich auf das eigene Wachsen zu fokussieren. Warum aus Angst nicht gut genug zu sein oder wegen noch fehlender Fähigkeiten gar nicht erst neue Projekte in Angriff nehmen? Warum Dinge, die man schon immer machen wollte, direkt wegschmeißen, weil „das ja eh nicht klappt“, anstatt sich zuerst einmal damit auseinanderzusetzen, inwieweit man seine Träume vielleicht doch umsetzen kann? Mittlerweile glaube ich tatsächlich, dass man ziemlich viel davon verwirklichen kann – wenn man bereit für Kompromisse und harte Arbeit ist.

Ich habe als ich jünger war immer zu meiner Mama gesagt, dass ich irgendwann mal pilgern will. Damals war das wahrscheinlich einfach nur ein Trend auf der „bucket list“. Mittlerweile will ich das aber tatsächlich, denn es gibt da dieses Motto, das ganz gut dazu passt und das, denke ich, so ziemlich jeder kennt: „Der Weg ist das Ziel“. Ich habe zwar immer verstanden, wie dieses Sprichwort gemeint ist, wirklich verinnerlichen konnte ich es bisher aber nie.
So wäre ich wahrscheinlich vor einem Jahr im Hinblick auf den Weg, der noch vor mir liegt, mit all seinen unschönen Wahrheiten, seiner erschlagenden Komplexität, beunruhigender Offenheit und schmerzhafter Unvollkommenheit gar nicht erst losgelaufen.
Heute bin ich einfach nur unglaublich gespannt und freue mich auf alles, was er noch zu bieten hat und wo er mich vielleicht alles noch hinführen wird.