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Sarah Weischer - 1. Bericht

FREMDE

Fremde. Substantiviertes Adjektiv, Feminin.
= weibliche Person, die aus einer anderen Gegend, aus einem anderen Land stammt, die an einem Ort fremd ist, an diesem Ort nicht wohnt

Diese Definition von dem, was ich hier zu Beginn war und es auch irgendwo immer noch bin – eine „Fremde“ – kann man nachlesen, wenn man in den Duden schaut. Um ehrlich zu sein war ich doch etwas überrascht als ich diese eben gegoogelt habe, da ich gar nicht erwartet hatte, dass sofort auf die geografische Herkunft eingegangen wird.

Auf der einen Seite trifft es diese Definition faktisch gesehen ja ziemlich gut: Ich bin weiblich und befinde mich zurzeit in Ecuador, ein Land, dass 10.032,96 km von meinem Heimatland – Deutschland – entfernt ist.
Und doch reicht diese reine Definition, wie es ja eigentlich immer bei Definitionen von abstrakten Begriffen der Fall ist, irgendwie nicht aus, um zu beschreiben, wie es sich wirklich anfühlt, eine „Fremde“ zu sein.

Sicher habt ihr euch schon mal fremd gefühlt. Vielleicht auf einer Feier, auf die ihr einen Freund/Freundin begleitet habt, und wo ihr keine anderen Leute kennt. Oder wenn ihr zum ersten Mal zuhause bei einem neuen Freund/Freundin seid. Vielleicht seid ihr auch schon mal umgezogen oder habt die Klasse/Arbeitsstelle gewechselt und wisst, wie es sich anfühlt, in einer neuen, eben einer fremden Umgebung zu sein.
Man fühlt sich zunächst irgendwie fehl am Platz, fast schon wie ein Eindringling. Alles scheint wie ein in sich geschlossenes, funktionierendes System, in dem man erst einmal noch keinen Platz hat. Auf der einen Seite ist es interessant, in diese neue Umgebung einzutauchen und neue Eindrücke zu sammeln., manchmal würde man aber gerne am liebsten weg von diesem Ort, dahin zurück, wo man eben hingehört und wo man sich zuhause fühlt.

Ja, so ging es mir auch die ersten Wochen hier in Ecuador. Und hier ist man nicht nur in einem Lebensbereich fremd, sondern beginnt wirklich ein komplett neues Leben.

So zieht man zunächst einmal natürlich in ein neues Zuhause, in diesem Fall eine WG mit drei Mitbewohnern, bzw. Mitfreiwilligen ein. Nachdem Paul (einer meiner Mitfreiwilligen, der gemeinsam mit mir erst eine Woche später als die anderen beiden Freiwilligen, Antonia und Elena, geflogen ist) und ich die ersten drei Tage in der Freiwilligen-WG in Quito verbracht hatten, war ich ziemlich gespannt, wie denn nun unser zukünftiges Zuhause aussehen wird und die ersten Tage in „unserer“ neuen Wohnung waren auch echt cool. Auch wenn ich ehrlich zugeben muss, dass mir erst dann wirklich bewusst geworden ist, was es heißt seine Standards runterzuschrauben (dazu muss man sagen, dass wir hier zwar nicht im Luxus leben, die Grundbedürfnisse aber vollkommen erfüllt sind), überwog die Freude darauf, die noch leeren 4 Wände - aka mein Zimmer - nicht nur mit meinem persönlichen Hab und Gut und Dekoration, sondern vor allem mit vielen Gefühlen, Gedanken und Erlebnissen zu füllen, die schlussendlich zu Erinnerungen werden und aus diesem noch fremden Zimmer und natürlich auch dem Rest der Wohnung ein Zuhause machen.

Neben der neuen Wohnung war natürlich auch die Umgebung, bzw. die Geografie Ibarras zu Beginn fremd für mich. In den ersten Tagen haben mir Antonia und Elena die wichtigsten Wege zum Supermarkt, der Sprachschule, wo wir 2 Mal in der Woche Spanischunterricht haben, und zur Bank gezeigt und ich war schon froh, wenn ich diese wiedergefunden habe. Dennoch habe ich mich eigentlich ziemlich schnell alleine und ohne Google Maps in die Stadt getraut, um einfach ein bisschen rumzulaufen und eben die neue Umgebung zu erkunden, und war sehr stolz auf mich, dass ich ohne große Schwierigkeiten wieder nachhause zurückgefunden habe.

Am meisten fremd war und ist man auch irgendwo immer noch aber natürlich in der Kultur, wozu auch die Sprache gehört. Meiner Familie und meinen Freunden habe ich schon erzählt, dass ich hier zum ersten Mal wirklich nachvollziehen kann, wie sich Ausländer in Deutschland fühlen. Mit meinen roten Harren, der hellen Haut, den hellen Augen und meinen Sommersprossen falle ich ja hier schon vom Aussehen total auf und wenn ich dann anfange zu reden, ist eigentlich klar, dass ich nicht von hier komme. Ebenso kenne ich natürlich auch die alltäglichen Abläufe, Traditionen und Normen (noch) nicht. Das merkt man bei den einfachsten Dingen, wie z.B. beim Busfahren, oder wenn ein Kind auf der Arbeit Geburtstag hat und man merkt, dass man das spanische Happy Birthday gar nicht kennt, irgendwas vor sich hin summt und hofft, dass es niemandem auffällt. Es gibt hier sogar ein Wort für eine aus Europa stammende Person, die sich in Lateinamerika aufhält: „Gringas“ (weibliche Form), bzw. „Gringos“ (männliche Form) werden wir hier genannt, wobei ich mir noch nicht sicher bin, ob das eher negativ oder positiv gemeint ist. Als „Gringa“ sorgt man dann nicht nur an einer Ecke für teils verwirrte, größtenteils aber einfach nur neugierige Blicke, vor allem wenn man die Kinder zum Unterricht bringt oder sie abholt und zusammen mit den anderen Müttern an der Schule wartet. Oder wenn man zusammen mit ihnen im Bus sitzt, auf dem Weg zur Fundación, wo sie sich mit ihrem Vater treffen. Oder wenn man, so wie ich letztens, allein mit einem Mädchen beim Arzt und dafür verantwortlich ist, dass sie untersucht wird und das richtige Medikament verschrieben bekommt (nachdem ich an drei verschiedenen Stellen nachgefragt habe, habe ich das tatsächlich auch geschafft). Oft werde ich gefragt, ob das meine Kinder sind (was in meinem Alter hierzulande gar keine Seltenheit wäre), wobei ich aufgrund der Offensichtlichkeit, dass dem nicht so ist, aber glaube, dass es einfach ein Versuch ist, eine Unterhaltung anzufangen, um zu erfahren, was ich hier mache und wie ich zu den Kindern stehe. Ich kann es den Leuten nicht übel nehmen, denn auch ich wäre neugierig, wenn ich eine Person, die offensichtlich nicht aus Deutschland stammt, zusammen mit deutschen Kindern beim Arzt oder in der Schule sehen würde. Wenn ich dann erzähle, dass ich aus Deutschland komme und hier für ein Jahr Freiwilligenarbeit in einer Einrichtung für Kinder, die nicht mit ihrer Familie leben, leiste, sind die meisten sogar ziemlich interessiert, einige kennen die Fundación sogar. Generell habe ich hier noch nie das Gefühl gehabt, dass einem hier mit Feindseligkeit begegnet wird, die Leute sind eigentlich immer ziemlich offen und auch selten genervt, wenn man zum 3. Mal nachfragt, weil man etwas nicht verstanden hat.

Trotzdem ist es nicht immer einfach, die „Gringa“ zu sein. Es ist für mich tatsächlich das erste Mal, so fremd in einer Umgebung zu sein. Meine Familie ist zwar schon mal umgezogen, da war ich allerdings 5 und kann mich dementsprechend nicht mehr wirklich daran erinnern. Ansonsten hatte ich eigentlich immer meinen festen Platz, ob bei meiner Familie oder bei Freundesgruppen in der Schule oder bei Hobbies. Ich habe dazugehört, war ein Teil der Gruppe, oder größer gesehen, ein Teil der Kultur. Dieses Gefühl fehlt mir hier manchmal schon. Wie gesagt ist es nicht so, dass man bewusst ausgeschlossen wird, im Gegenteil, viele interessieren sich sogar unheimlich für die europäische Kultur. Dennoch ist jetzt zumindest noch das Wissen, dass das eigentliche Zuhause woanders ist, sehr präsent. Auch auf der Arbeit wünscht man sich manchmal, man würde wenigstens die Sprache besser können, um alles sofort zu verstehen und auch besser mit den Kindern umgehen zu können. Hinzu kommt, dass es mir generell schwer fällt, aufzufallen und angegafft zu werden, weil man noch nicht dazugehört und eben fremd ist, und das hat meine Nerven hier nicht nur in einer Situation ziemlich beansprucht.

Und trotz dieser Schwierigkeiten muss ich aber ehrlich sagen, dass die positiven Aspekte des Lebens in einer (noch) fremden Kultur überwiegen. So bin ich mir zum Beispiel sicher, dass ich nach diesem Jahr weniger Probleme damit haben werde, komisch von anderen Leuten angeguckt zu werden, ebenso führt die Tatsache, dass man sich irgendwie zurecht finden und einleben muss, weil einem gar nichts anderes übrig bleibt, dazu, dass man unheimlich viel an Selbstständigkeit und auch Kreativität (wenn man wieder überlegen muss, wie man sich am besten mit seinem noch begrenzten Vokabular ausdrückt) erlernt. Ich denke auch, dass ich, wenn ich wieder in Deutschland bin, „Gringas“ und „Gringos“ (Ich finde dieses Wort irgendwie viel cooler als „Ausländer“, auch wenn es bei uns in Deutschland ja eigentlich gar nicht passt) besser verstehen und offener auf sie zugehen und ihnen Hilfe anbieten kann, falls sie irgendetwas suchen, denn ich weiß, wie dankbar man dafür ist. Und, und das ist glaube ich meiner Meinung nach der größte Pluspunkt: Man hat die Möglichkeit, in einem fremden Land, in einer fremden Kultur ein zweites Zuhause zu finden.
Ich bin jetzt 2 Monate und eine Woche hier in Ecuador und fühle mich längst nicht mehr so fremd wie zu Beginn. Ich kenne die Stadt und die wichtigsten Orte mittlerweile ziemlich gut, weiß wie man dort mit dem Bus oder zu Fuß hinkommt und wo man am Besten was kaufen kann. Ich habe einen Alltag, auch zuhause in der WG, entwickelt. Ich kenne die alltäglichen Abläufe auf der Arbeit und werde den Educadoras (=Erzieherinnen) eine immer bessere Hilfe, ebenso wie ich auch die Kinder mittlerweile gut kenne und auch immer selbstsicherer mit ihnen umgehen kann. Und auch mein Spanisch hat sich echt deutlich verbessert. Dadurch dass man außer mit den anderen Freiwilligen wirklich nur Spanisch spricht, lernt man ziemlich schnell und durch den wöchentlichen Sprachunterricht bekommt man einen immer besseren Durchblick über die Grammatik und all die verschiedenen Zeiten. Letzte Woche haben mir zwei Einheimische gesagt, dass ich schon wirklich gut spreche und das macht mich jedes Mal total glücklich, wenn man merkt, dass man Fortschritte macht. Ebenso sind mir jetzt schon meine Mitfreiwilligen, all die lieben Menschen, die ich bisher kennengelernt habe, und natürlich auch die Kinder auf der Arbeit ziemlich ans Herz gewachsen, was ebenfalls dazu beiträgt, dass man hier immer mehr „ankommt“.
Ich freue mich jetzt schon unglaublich darauf, hier am Ende des Jahres vielleicht immer noch eine „Gringa“, aber auf jeden Fall keine Fremde mehr zu sein und schätze diese Möglichkeit, hier ein zweites Leben aufzubauen unheimlich, denn sie ist für mich wirklich alle Schwierigkeiten wert.

Wenn ich nochmal genauer über das Zitat, mit dem ich diesen Text begonnen habe, nachdenke, fällt mir auf, dass ich dem so eigentlich gar nicht ganz zustimmen kann. „Fremdheit“ hat für mich viel weniger mit der geografischen oder kulturellen Herkunft zu tun, es ist vielmehr ein Gefühl von oder eben nicht von Vertrautheit oder Zugehörigkeit.
So werde ich mich wahrscheinlich, obwohl ich mich natürlich auch darauf freue, wieder ein neues Leben anzufangen, wenn ich zurück in Deutschland bin, in meinem eigenen Heimatland, Deutschland, fremd fühlen und mich auch dort erst wieder neu einleben müssen. Auf der anderen Seite kann ich hier, in Ecuador, 10.032,96 km entfernt, mit meiner Gitarre auf der Dachterrasse sitzen, mit den Kindern auf der Arbeit kuschelnd einen Film schauen oder ausgelassen mit ihnen spielen, mich mit meiner Spanischlehrerin über Persönlichkeitsentwicklung unterhalten, in einem Bot auf dem Atlantik Wale beobachten oder mit meinen Mitbewohnern während wir zusammen kochen lauthals zu alten Rihanna Liedern mit grölen – und mich dabei so zuhause fühlen wie nie zuvor.