Diese Seite drucken

Carolina Gaul - 2. Bericht

Ecuador, Ibarra, morgens, 6 Uhr – ich laufe ganz routinemäßig zur Arbeit- alles ist wie immer. Ich überquere Straßen, die mit Fußgängerampeln ausgestattet sind, ich laufe auf einem asphaltierten Bürgersteig, sehe Menschen im Anzug, die gestresst zur Arbeit fahren, andere, die in normaler Kleidung Brot kaufen. Ich sehe Kinder auf ihrem Schulweg und jene, die sich zum Frühsport aufraffen und joggen. Fast wie in Deutschland, könnte man meinen.

Dieses Szenario gehört zu meinem täglichen Ablauf hier in Ecuador und trotzdem habe ich bisher niemandem detailliert darüber berichtet. Sofort berichte ich dennoch, wenn sich eine Familie mit Verkäufen auf dem Markt und den Einnahmen ihrer auf der Straße bettelnden Kinder über Wasser hält.

Mit der Tatsache, dass ich über solche Einzelfälle berichte, gleichzeitig aber Alltägliches und die von mir wahrgenommenen Ähnlichkeiten zu Deutschland gerne verschlucke, lasse ich bei meiner Audienz ein Bild entstehen, dass nicht unbedingt der Wirklichkeit entspricht, denn ich bilde nur einen Bruchteil ab. Da ich aber zurzeit hier lebe und 365 Tage in Ecuador verbringe, wird gerne angenommen, meine Erzählungen seien glaubwürdig und vor allem objektiv.

Wieso mache ich das? Wieso verzerre ich, wenn auch unterbewusst, die Wirklichkeit? – dies begann ich mich zu fragen, als wir bei unserem Weltwärtszwischenseminar ein Workshop zu diesem Thema hatten und ich mich das erste Mal damit auseinandersetzte.

Ein Grund dessen ist sicherlich ein persönlicher Drang, ebenso wie externe Erwartungen, dass ich hier Exotisches und Abenteuerliches erleben müsse, das „echte“ Ecuador erfahren. Gefragt ist der Dschungel, die Indigenen- nicht mein langweiliger Arbeitsweg.

All dies geschieht ganz unterbewusst und entstammt aus unserer gesellschaftlichen Prägung, die eurozentrisch ist. Wir nehmen Europa als Maßstab und grenzen jede abweichende Form klar ab- sehen uns dabei aber als überlegen an. Es sind Rassismus und Kolonialismus, die bis heute in gewisser Form bestehen. Eine Überlegenheit, die im 15. Jahundert über Religion und später über eine biologische Rasseneinteilung definiert wurde, wird heutzutage wirtschaftlich und kulturell legitimiert. Westliche Wissens- und Wirtschaftssysteme dominieren die gesamte Staatenwelt, übertragen werden konnten sie aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeiten.

So lernen wir im Politikunterricht welche Staaten entwickelt und welche unterentwickelt sind – sehen uns selbst dabei aber als Maß der Dinge. Wir denken unsere entwickelte Welt, unsere Systeme seien Bessere, doch frage ich mich mittlerweile oft, ob ich dem zustimme. Wir messen Entwicklung und Reichtum in Wohlstand, wo man doch so vieler Dinge reich sein kann.

Viele der Gemeinden, die ich hier kennenlernen durfte messen ihren Reichtum darin, im Einklang mit der Natur zu leben um dieser, und im Umkehrschluss auch wieder dem Menschen, ein langes Bestehen zu gewähren. Ihr zu geben und in gleichem Maße von ihr zu nehmen. Es ist eine Lebensweise, die ich als sehr bewundernswert und auch als sehr entwickelt erachte.

Ich bin also durch das Aufwachsen in einer westlichen Gesellschaft von dieser geprägt. Das Europäische stellt für mich das Normale, das Entwickelte dar, dritte Welt Länder das Andere, das Unterentwickelte.

Selbst die Sprache ist mir beim Berichten kein objektives Mittel, da auch diese gesellschaftlich geprägt ist. So existieren die Begriffe der Entwicklung, der „Dritte- Welt-Länder“ und ich wende sie in meinem Sprachgebrauch an.

Wie also schaffe ich es objektiv zu berichten? Oder gar meine westliche Brille abzulegen?

Ich stelle immer wieder ganz deutlich fest, dass ich Sachverhalte und Umstände bewerte. Ich vergleiche und empfinde das mir Bekannte als besser. Unser Bildungssystem, die Infrastruktur, unser ökologisches Bewusstsein und so vieles mehr sehe ich persönlich dem Hiesigen als qualitativ überlegen. Nun ist die Frage- tu ich all das, nur auf Grund meiner westlichen Brille? Oder habe ich diese Empfindungen, weil es vielleicht wirklich so ist?

Dieses Dilemma stellt sich mir, sowohl wenn ich mich hier mit Einheimischen austausche, als auch, wenn ich nach Deutschland berichte. Herausgefunden habe ich für mich, dass es immer das Beste ist, zu verdeutlichen, dass jegliche Art von Berichterstattung keinesfalls objektiv und im Gegenteil eine rein subjektive Abbildung eigener Erfahrungen und Gefühle ist.

Um aber zu versuchen, meinen Horizont um neue Ansichten zu erweitern, als immer nur in Betracht zu ziehen was mir meine Gesellschaft gelehrt hat- um die Welt also mit anderen Augen zu sehen- denke ich, dass es nichts Besseres gibt als so einen Auslandsaufenthalt, der einem die Möglichkeit gibt, andere Denk- und Ansichtsweisen kennenzulernen.