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Niklas Thoms - 1. Bericht

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“

Von dem Gefühl der „totalen Dummheit“ und der Neuentdeckung der Liebe zur Sprache - eine Gedankensammlung

„Ich könnte kotzen!“. Vor mir steht Wilson und blickt fragend zu mir hoch. Er hat mir soeben zum dritten Mal in Folge von irgendeinem, für den Nachmittag geplanten Spiel erzählt. Das jedenfalls glaube ich zu verstehen, sicher bin ich nicht. Denn Wilson spricht Spanisch - ich nicht, beziehungsweise nur ein bisschen. Um welches Spiel es sich also handelt, wo genau es stattfindet und was um Himmels Willen die Frage ist, die er mir in diesem Zusammenhang offenbar gestellt hat, bleibt mir aufgrund dessen leider verborgen. Das ist grundsätzlich schon ärgerlich genug. Schlimmer wird es jedoch dadurch, und hier liegt wohl auch die Ursache für meine anfänglich beschriebenen Gedanken, dass Wilson erst 5 Jahre alt ist und seine anfänglich leuchtenden Augen nun ziemlich verständnislos dreinblicken. Das löst natürlich nicht im wörtlichen Sinne einen Brechreiz bei mir aus, lässt mich aber mit einem schwer zu beschreibenden Gefühl von Wut und Hilflosigkeit zurück.

Ein Gefühl, mit dem ich mich in den ersten Wochen hier in Ecuador öfter konfrontiert sah und welches neben der offensichtlichen Enttäuschung darüber, mein Gegenüber nicht verstehen zu können, auch daraus resultiert , dass „ich mich nicht erinnern kann, mich schon mal so dumm gefühlt zu haben!“. So jedenfalls habe ich es formuliert, als ich einem guten Freund über Skype von meiner Arbeit, meinem neuen Leben in Ecuador und dem Voranschreiten bzw., was die subjektive Wahrnehmung betrifft, zähen Vorankriechen meiner Spanisch-Kenntnisse, berichtet habe. Das hört sich nun erst einmal ein wenig ernüchternd an, ist aber - ein Glück - die einzige Erkenntnis, die nicht ausnahmslos positiver Natur war. Ansonsten konnte ich durchgehend froh stimmende und erheiternde Erfahrungen teilen, wie etwa: „Die Arbeit ist zwar anstrengend, aber gleichermaßen erfüllend“ und „Ich habe schon in der Anfangszeit verdammt interessante Menschen kennengelernt“, oder „der ecuadorianische Genpool ist, was die weibliche Oberweite angeht, offenbar sehr ergiebig“.

Doch trotz aller Freude über ein gutes Einleben und schöne Brüste waren es in der Retrospektive betrachtet wohl doch der Kampf mit der Sprache und die damit zusammenhängenden Erfahrungen, welche die ersten Monate meines Freiwilligendienstes am meisten geprägt haben. Im Negativen, weil es manchmal einfach ätzend ist ein Kind mit wahlweise leuchtenden oder verheulten Augen nicht zu verstehen - aber langfristig betrachtet vor allem wohl im Positiven. Denn all dies hat dazu geführt, dass ich mich noch einmal grundlegend mit „Sprache“ und „Spracherwerb“ auseinandergesetzt und so wichtige Erkenntnisse gewonnen habe.

So hätte ich, hätte man mir vor ein paar Wochen die Frage gestellt, was „Sprache“ für mich sei, wohl, ganz Poet und Schreiberling, angefangen von „meiner großen Liebe“ zu schwärmen. Von Literatur und der Kraft von Worten – von den Hesses und Murakamis dieser Welt. An dieser „Liebe“ zur Sprache hat sich nun selbstverständlich in den letzten Wochen wenig geändert und trotzdem würde ich heute wohl anders antworten. Weil die durch Erfahrungen, Gespräche und Lektüre gewonnenen Erkenntnisse mir vor Augen geführt haben, wie viel mehr Sprache doch ist, als „nur“ Literatur oder ein Mittel zur Kommunikation. Und so würde ich heute vielleicht - nicht weniger poetisch, aber wahrscheinlich etwas reflektierter – antworten:

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“.

Denn dieser Aphorismus des österreichisch-britischen Philosophen Wittgenstein beschreibt für mich gleich mehrere Erkenntnisse über Sprache in ihren verschiedenen Ebenen, die ich in den letzten Wochen gewonnen habe.

Zuerst einmal kurz zu dem nach den zuvor behandelten Erfahrungen naheliegenden Aspekt, mit anderen Menschen kommunizieren zu können. Sprache fungiert hier als Mittel zum Zweck des Austauschs. Man ist in der Lage sein Innerstes, seine Gedanken, nach außen zu tragen, mit anderen zu teilen. Was gleichzeitig bedeutet, dass, sofern man nicht die gleiche Sprache spricht, dieses Werkzeug wegfällt und ein Austausch zwar vielleicht nicht gänzlich unmöglich wird, denn oft kommt man auf einem wenig komplexen Niveau auch mit den in diesem Zusammenhang vielzitierten „Händen und Füßen“ weiter, aber doch in erheblichem Maße eingeschränkt. Ich kann mich meiner Umwelt nicht mitteilen, erfahre die mir durch Sprache gesetzten Grenzen.

Nun könnte man bezogen auf den wittgenstein´schen Aphorismus erwidern, dass die Grenze meiner Fähigkeit mit anderen zu kommunizieren, nicht gleichzusetzen ist mit den Grenzen meiner Welt - und hätte damit wohl recht. Denn ich kann meine Umwelt ja trotzdem wahrnehmen und sie für mich in meinen Gedanken verarbeiten. Doch auch hier - und nun kommen wir in den Bereich über den ich zuvor tatsächlich eher weniger nachgedacht habe und den wohl auch Wittgenstein, als er die Worte schrieb, im Sinn hatte – sind wir natürlich in unserem linguistischen System gefangen. Denn ich bin nur in der Lage, in den mir zur Verfügung stehenden Worten zu denken.

„Die Sprache ist die Infrastruktur im Land des Denkens“

(Prof. Dr. phil. habil. Rainer Kohlmayer)

So dachte man früher, mit der Philosophie könne man die Welt begreifen. Dabei ist es uns Menschen nur möglich ein sprachliches Abbild der Welt zu beschreiben. Besonders deutlich wird das beispielsweise gerade in der Philosophie selbst, wo man nahezu bei jedem Problem/Gedankengang früher oder später (meistens früher) an seine sprachliche Grenzen stößt. Meistens dann, wenn es um die Trennschärfe/Abgrenzung von Worten und ihren Bedeutungen geht. Aber auch im Alltag merkt man immer wieder, beispielsweise bei Gefühlen und Empfindungen, dass die vorhandenen Worte manchmal einfach nicht ausreichen, um genau wiederzugeben, was in einem vorgeht. Gerade deswegen ist es auch eine solche Kunst, Eindrücke, Empfindungen und Handlungen so zu beschreiben, dass das Gegenüber oder der Leser das Gefühl hat sie in irgendeiner Art und Weise mitzuerleben. Nun kann zweifelsohne nicht Jeder Sätze kreieren, wie beispielsweise ein Hermann Hesse. Wollen viele vielleicht auch gar nicht. Trotzdem kann man sich ja fragen, denkt man an sein linguistisches Gefängnis, wie man seine Gefängnismauern erweitern kann.

Ich zum Beispiel habe die meiste Zeit meines Lebens „auf Deutsch gedacht“ und bin mir auch ziemlich sicher, dass ich in meinem weiteren Leben wohl in keiner anderen Sprache an mein deutsches Sprachniveau herankommen werde. Will ich meine durch meine Sprache gesetzten Grenzen des Denkens also erweitern, muss ich wohl mein „Deutsch“ verbessern. Also her mit Hesse und Brockhaus, mit Prosa und Fachworten? Bestimmt ein Weg - aber, und jetzt sind wir bei der für mich interessantesten und wichtigsten Erkenntnis angelangt, definitiv nicht der einzige. Denn auch oder gerade das Erlernen von Fremdsprachen fördert das Beherrschen der eigenen Muttersprache in Wortschatz, Syntax und Grammatik. Denn jede Fremdsprache ermöglicht es, die Muttersprache objektiv – sozusagen von außen – zu betrachten und sich so ihrer Funktionsweisen und ihres Bedeutungspotentials besser bewusst zu  werden. So wusste schon Goethe:

„Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“

 

Das heißt, das Erlernen einer Fremdsprache ist weit mehr als nur die sprachliche Bewältigung von Alltagssituationen. Davon bekommt man schon bald eine Ahnung, wenn man entdeckt, dass es wahre Synonyme, Eins-zu-eins-Entsprechungen zwischen den Sprachen nur selten gibt. Wer eine neue Sprache lernt, erwirbt demnach gleichzeitig auch neue Denkweisen und – muster, sowie neue Sinnes- und Gefühlseindrücke, beziehungsweise die Fähigkeit diese besser beschreiben zu können.

Ein Beispiel: Eines meiner Lieblingsworte im Englischen ist „awkward“. Zum einen, weil allein der Klang des Wortes schon irgendwie das Gefühl, was es beschreibt, ausdrückt – eben irgendwie seltsam, zum anderen, weil es ein bestimmtes Gefühl oder eine bestimmte Stimmung so viel besser zu beschreiben vermag als alle deutschen Worte, die mir bekannt sind. Zuletzt verwendet habe ich das Wort beispielweise, als ich mit meinem Bruder auf das politische Trauerspiel in den USA zu sprechen kam und im Zuge dessen auf das Treffen zwischen Michelle Obama und Melania Trump. Man stelle sich vor - da muss diese eloquente, intellektuelle Frau und amtierende First-Lady sich tatsächlich mit dieser Portion Plastik und ihrer Nachfolgerin, die sich kurz zuvor auch noch erdreistet hat große Teile einer ihrer Reden zu klauen und im TV als ihre zu verkaufen, in einen Raum setzen und höfliche Konversation machen. Als wir uns also über die Stimmung bei diesem Zwangstreffen amüsierten, war ich froh, dass ich nicht nur in deutschen Worten, wie „komisch“, „seltsam“, „unangenehm“ oder Kombinationen aus eben jenen, denken konnte, sondern ein es schlicht besser auf den Punkt bringendes „fucking awkward“ in meinem Gedanken-Repertoire hatte.

Das heißt also durch das Erlernen der englischen Sprache, haben sich gleichzeitig die Gefängnismauern unserer Gedanken erweitert - wir können Gefühle besser oder überhaupt das erste Mal richtig beschreiben und lernen teilweise sogar völlig neue Denkmuster kennen. Vielleicht nicht allzu oft im Englischen, weil die Sprachen doch relativ ähnlich sind, bei anderen Sprachen aber umso öfter. Das für mich bisher eindrücklichste Beispiel dafür sind die Benennungen oder Einteilungen von Farben.
So beschreibt das Wort „Orange“ im Deutschen beispielsweise gleichzeitig eine Farbe und eine Frucht. In unseren Denkmustern gibt es demnach eine Verknüpfung zwischen diesen beiden, vielleicht eher unterbewusst, aber sie ist da. Ähnlich ist das im Englischen („orange“) und im Spanischen, wie es in Spanien gesprochen wird („naranja“). Im ecuadorianischen Spanisch hingegen ist das Wort für dieselbe Farbe „tomate“ (auf Deutsch: Tomate). Unterbewusst ist die Farbe also bei den Menschen hier mit einem völlig anderen Nahrungsmittel verbunden. Für mich komisch, denn aus meiner subjektiven Wahrnehmung heraus ist nicht nur die Farbe der Frucht und die beschriebene Farbe unterschiedlich – auch ist die beschriebene Farbe von meinen damit verbundenen Charakter- und Gefühlseindrücken so gar nicht „tomatig“. Jetzt werden wohl viele sagen, „interessant, aber ein gänzlich anderes Denkmuster sehe ich darin noch nicht“. Spannend wird es aber wenn es um Farbeinteilungen geht. Also der Frage welche Farben für uns zur gleichen Farbgruppe gehören. Im Deutschen und Englischen werden zum Beispiel „hellbau“ und „blau“ zusammengepackt. Im Spanischen hingegen sind das völlig verschiedene Wortgruppen, (nämlich „celeste“ und „azul“). Für uns aber wirklich abwegig, und hier würde man im englischen wohl von einem „Game-Changer“ sprechen, wird es farbtechnisch in vielen asiatischen Völkern, sowie im südlichen Afrika oder auf Papua- Neuguinea. Denn hier verwenden die Menschen für die Farben Grün und Blau nur ein einziges Wort. So wie für uns im Kopf also Himmel und das Wasser irgendwo in die gleiche Farbgruppe gehören, sind für die Menschen dort auch Bäume und das Meer zusammengehörig und bilden in den Köpfen von Geburt bzw. von Spracherwerb an das erst einmal alleinige Denkmuster. Wie völlig anders müssen diese Menschen die Welt wahrnehmen?

Lange Rede - kurzer Sinn. Was ich mit einigen relativ wild durcheinander gewürfelten Beispielen und nur bedingt sortierten Gedanken zum Ausdruck bringen möchte ist, wie viel mehr als nur die reine Fähigkeit, mit anderssprachigen Menschen zu kommunizieren, Sprache bzw. das Erlernen einer Fremdsprache doch bedeutet. Kann doch schon hinter einzelnen Begriffen die andersartige historische, kulturelle und soziale Wirklichkeit des fremden Landes hervorschimmern und, um mit den Gedanken Humboldts zu enden, uns vielleicht etwas von der „eigentümlichen Weltansicht“ spüren lassen, die ihm zufolge in jeder Sprache zum Ausdruck kommt – so ist:

Sprache (ist) der Schlüssel zur Welt

(Wilhelm von Humboldt )