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Lea - 3. Bericht

Casa Familia

Nach neun Monaten verlasse ich nun Ecuador: Verabschiede mich von den Kindern, sage meiner WG bis bald und höre – für ein vorerst letztes Mal – die Leute um mich herum Spanisch sprechen. Nach dieser Zeit ist mir die Welt, in der ich in Ecuador gelebt habe, präsenter als das Leben, das mich in Deutschland erwartet. Auch wenn der Abschied traurig war, war er schön und abschließend, sodass ich nun vielleicht bereit bin, zu gehen, aber nicht bereit bin, zuhause anzukommen. Ich nehme definitiv mehr Geschichten mit als Souvenirs. Es wird unmöglich sein, die Gesamtheit jener zu teilen, obwohl ich dieses Jahr so viel geteilt und in Gemeinsamkeit erlebt habe. Über geduldige und interessierte Zuhörende werde ich mich freuen. Selbst wenn es zunächst die typischen abgedroschenen Fragen sind, die gestellt werden: Jede Geschichte hat ihren Anfang.

Verging die Zeit schnell?

Es gab die Zeit des Kennenlernens. Es gab die Zeit des sich vertraut Fühlens. Es gab die Zeit des sich wohl Fühlens. Wenn ich die Beziehung zu den Kindern am Anfang und nun am Ende vergleiche, scheint es mir, als wäre eine Ewigkeit vergangen. Das Aufbauen von Vertrauen braucht Zeit und wie viel wir davon zusammen verbracht haben, ließ uns einander vertraut werden. Ich konnte sie zu siebt mit zu uns nach Hause nehmen, Pizza backen, Verstecken spielen, sie bei mir übernachten lassen und wusste, dass keiner in der Nacht plötzlich nach Hause wollen würde und sie mir am nächsten Morgen beim Aufräumen helfen würden. Sie haben sich wohl gefühlt und ich mich wohl mit ihnen. Auf der anderen Seite hat es in den ersten Wochen, in der Phase des Kennenlernens, immer wieder Momente gegeben, in denen wir uns vertrauter wurden oder – aus meiner damaligen Sicht – schon vertraut waren. So lebte man von einem  Vertrauenserfolg zum nächsten, blind dafür, dass dies noch lange nicht der Höhepunkt sein würde. Auf diese Weise verflog die Zeit, aber nun am Ende, von ganz oben, sehe ich, was sie aus uns gemacht hat: Vertraute.

Der Zauber der Vergänglichkeit während der letzten Wochen hat den endgültigen Abschied nicht leichter gemacht. Das bessere Abschiedsnarrativ ist, dass die Kinder, wenn ich in einiger Zeit wiederkomme, nicht mehr da sein werden, weil sie hoffentlich eine Familie haben. Ich hoffe sehr, dass sie zumindest irgendwann an die Nummer schreiben, die ich im Fotoalbum gelassen habe. Ich habe die Endgültigkeit des Abschieds von den Kindern erst sehr spät verstanden. Aber als sie – symbolisch auch noch sehr treffend – im Auto wegfuhren und ich zurückblieb, hat die Welt, in der ich in den letzten Monaten gelebt habe, kurzzeitig schon aufgehört, bevor ich überhaupt im Flugzeug saß. Überhaupt ist es verrückt, dass man in einem Tag, in nur einem Tag im Verhältnis zu den 271 Tagen, die ich hier war, wieder in seine alte Welt zurückkommt, die so lange die Vertraute und zunächst Vermisste war.

Ich denke, ich werde in Deutschland immer die Augen offen halten für mögliche Spenden für die Fundación Christo de la Calle. Ich weiß, dass manchmal Geld für den Bus fehlte oder die Educadoras die Gasflaschen aus der eigenen Tasche bezahlen mussten und dass demensprechend kein Dollar ungenutzt verschwindet. Die Fundación macht eine unglaublich wichtige Arbeit und die Dinge, die vielleicht noch zu verbessern sind, entwickeln sich im Prozess. Denn auch das braucht Zeit. Und Geld.

Ohne zu wissen, wie es geworden wäre, bin ich so glücklich, dass es damals nicht genügend Freiwillige in Quito gab und ich mit diesen unglaublichen vier Deutschen, die nun auch Vertraute sind, und der erfüllenden Herausforderung im Projekt in Ibarra gelandet bin. Die anfängliche Sorge, nicht unterstützend zu sein, wich als ich sah, wie nahbar die Kinder wurden, nachdem man sich vertraut hatte. Ich werde in Deutschland die Ohren für das Klingeln meines Handys offenhalten, wenn mich eine ecuadorianische Nummer anruft.

Ich hatte eigentlich gedacht, fünf typische abgedroschene Fragen zu beantworten, doch stellt sich heraus, dass sogar die einfachste Frage, mich so viel über mein Jahr erzählen lässt.

Jede Geschichte hat ihren Anfang. Und jede Geschichte hat ihr Ende.

Das Kapitel Ecuador endet hier.

Ich bin unbeschreiblich glücklich und dankbar für diese Erfahrung und auch ein bisschen stolz über den aufgebrachten Mut, so lange von meinem Zuhause weggewesen zu sein.

Es ist faszinierend, wie man mit der Zeit überall auf der Welt sein Casa Familia – ein Zuhause und eine Familie – finden kann.